68er in Nordhessen

Was kommt Euch in den Sinn, wenn Ihr an die 68er Bewegung denkt? Studentenproteste, große Persönlichkeiten und große Städte? Sozialistischer Deutscher Studentenbund (SDS), Außerparlamentarische Opposition (APO) oder sogar Rote Armee Fraktion (RAF)? Unsere Geschichtsschreibung und Medienlandschaft fokussieren sich auf die greifbaren, großen Dinge. Vielleicht verwundert es da anfangs sogar, dass es die 68er natürlich auch abseits dieser bekannten Geschichten, und abseits der Hochburgen und Großstädte gegeben hat. Natürlich hatten auch wir Nordhess:innen alles von Schüler:innenzeitungen über Gegenschulen bis hin zu SDS-Vorstandsmitgliedern und sehr engen Bezügen zur ersten RAF-Generation bei uns. Nur Universitäten hatten wir keine. Im folgenden möchten wir also einige der weniger bekannten, heute vielleicht merkwürdig wirkenden Geschichten erzählen und jeweils im Anschluss versuchen, Erkenntnisse für den heutigen Aktivismus im nach wie vor konservativ geprägten Nordhessen und anderen ländlichen Regionen im deutschsprachigen Raum zu gewinnen. Einen vollständigen Überblick können wir dabei aber nicht geben, weil dafür schlichtweg historische Fakten als Grundlage fehlen. Nicht alles, was auf dem Land an Demonstrationen, Plakataktionen und Provokationen stattfand, wurde gut dokumentiert und ist bis heute an bekannten Orten öffentlich und problemlos auffindbar. Deshalb wird das Buch „Der Freiheit jüngstes Kind“ 1, geschrieben von zwei Lehrern und Hobbyhistorikern, unsere Hauptquelle für diesen Artikel sein. Zwar haben wir versucht, uns über dieses Buch hinaus zu informieren, mussten aber schnell feststellen, wie wenig sich vor allem im Internet zum gesamten Thema finden lässt (und die Quellen, die es gibt, beziehen sich oft ebenfalls auf diese zwei Autoren!). Wir werden uns hier also auf diese kleine Auswahl an Geschichten beschränken, müssen aber davon ausgehen, dass es noch einige weitere gibt, die nur darauf warten, ausgebuddelt und dokumentiert zu werden.

Kapitel I: Die Schülerzeitungen

Erst 1971 wurde in Kassel die erste und bis heute einzige Universität Nordhessens gegründet. Die Angelpunkte der 68er lagen aber in ähnlichen Umfeldern: den Oberstufen der Kleinstadtgymnasien.

Selbst unsere älteste Geschichte findet dort statt, 1961 auf einer Erinnerungsveranstaltung der Geschwister-Scholl-Schule in Melsungen. Monika Funken (damals Steffen) wurde gerade erst zur Vorsitzenden der Schülerzeitung, und Michael Rutschky zum Schulsprecher gewählt. Ihre Aktion wirkt aus heutiger Sicht fast banal: als die Nationalhymne angestimmt wurde, blieben sie sitzen.

Die Konsequenzen fielen etwas drastischer aus. Es entstand ein riesiger Aufstand, Funken wurde angefeindet, ein Lehrer zerriss ihre Bluse, sie floh, wurde von nun an auf der Straße beschimpft und bald von den eigenen Eltern rausgeschmissen. Sie und Rutschky verloren ihre Ämter, wurden nicht versetzt und mussten die Schule verlassen.

Es ist eine bittere Moral, die man aus dieser kurzen Geschichte ziehen muss. Natürlich sind die beiden aus heutiger Sicht Held:innen, um nicht zu sagen Märtyrer:innen, die für das eingestanden haben, was sie gedacht haben. Und doch muss man sich die Frage stellen, ob es keinen anderen, besseren Weg gab. Sie selbst bezeugen, dass es eine spontane Aktion war. Vielleicht hätten sie mit etwas Planung und anderen Methoden aber auch echte Veränderung bringen können, ohne darunter selbst zu leiden. Immerhin besaßen sie bereits die zwei wertvollsten Ämter, die Schüler:innen innehaben können. So macht es beispielsweise im selben Jahr und nicht weit entfernt Volkhard Mosler an der Theodor-Heuss-Schule in Homberg. Durch seine Position als Schulsprecher setzt er durch, dass erstmals Dokumentationsfilme über die Konzentrationslager gezeigt werden, und 1962 schreibt er den ersten politischen Artikel, der in seiner Schüler:innenzeitung, dem „schulecho“, veröffentlicht wird, über die Kuba-Krise. Andernfalls hätten Funken und Rutschky aber auch anonym und subversiv agieren können, z.B. ganz nach den Geschwistern Scholl, nach denen ihre Schule benannt wurde.


Ein weiteres Jahr später sorgen erneut ein Schulsprecher und sein Schüler:innenzeitungs-Chefredakteur für Aufruhr. Als eine „Zeit, in der man ahnte, dass die Weltrevolution bald ausbricht, sich aber ziemlich sicher war, dass sie nicht nach Eschwege kommt“, bezeichnet letzterer das Jahr 1963.

Schulsprecher Jörg Scholz sollte an der Friedrich-Wilhelm-Schule eine Rede des Schulleiters vorlesen und als seine eigene ausgeben, obwohl er die geäußerten Meinungen gar nicht vertrat. Er musste sein Amt niederlegen, um nicht gezwungen zu werden, und enthüllte die Geschehnisse in der Schüler:innenzeitung „Laterne“. Also möchte der Schulleiter auch hier Zensur durchsetzen, woraufhin die Schüler:innen die Zeitung außerhalb des Schulgrundstückes – d.h. in der gesamten Stadt – verteilen. Es folgen weitere Ausgaben mit scharfer Kritik am Schulleiter, landesweite Schlagzeilen in größeren Zeitungen und schließlich stellt sich sogar Hessens Kultusminister gegen den Schulleiter und unterstellt in Hessen als erstem Bundesland überhaupt die Schüler:innenzeitungen der Pressefreiheit. Was heute selbstverständlich erschient, war damals eine große Sensation, und ermöglichte viele der folgenden Geschichten, in denen Schüler:innenzeitungen eine Rolle spielen. Außerhalb von Hessen wären sie wohl komplett anders ausgegangen.

Was sich hier beobachten lässt ist ein Parabeispiel für Aktionismus durch die Presse im Mikrokosmos. Präsenz in der Stadt zeigen und immer wieder provozieren, ohne juristisch oder moralisch allzu verwerflich zu handeln, reicht in der Regel aus, um große Aufmerksamkeit und Unterstützung zu erzeugen. Die eigene Position wird hier wieder und wieder im eigenen Medium der Schüler:innenzeitung manifestiert, verstärkt und verbreitet, während andere Medien die Geschehnisse über die Stadtgrenzen hinaus tragen. Wer genug motivierte, literarisch souveräne und mutige Leute hat, kann sich von dieser Methode wohl bis heute große Erfolge erhoffen.


Doch dieser Rahmen des juristisch und moralisch nicht verwerflichen ist eine heikle Angelegenheit, und alles an Motivation, literarischem Talent und Mut ist unnütz, wenn man einmal aus diesem Rahmen fällt. So war es beispielsweise 1966 und 1967 zurück in Homberg. Horst Brühmann ist Chefredakteur des schulechos geworden und veröffentlicht sexuelle Aufklärung in der Schüler:innenzeitung. Zwei Jahre lang duldet der für seine Zeit noch sehr liberale Schulleiter das allgemein als unsittlich und unangemessen angesehene Verhalten, bis Brühmann von der Schule geworfen wird.

Auch Brühmann hätte sich wohl bessere Wege des Aktionismus suchen können, oder bei einem ohnehin so kontroversen Thema nicht ganz so provokativ sein müssen. Wir reden hier nämlich nicht von inhaltlich hochwertigen Bildungstexten über z.B. die Periode, sondern von kurzen, oberflächlichen, höchstens den Diskurs anregenden Beiträgen wie z.B. „Lakritzen, Lakritzen, die Mädchen haben Ritzen“.

Natürlich gibt es bei jeder politischen Arbeit Kritik, Anfeindungen und Beleidigungen. Wer einen gewissen Teil der Bevölkerung gegen sich hat, kann sich sicher sein, alles richtig gemacht und genug Aufmerksamkeit erregt zu haben (z.B. die Bild-Zeitung kritisierte Brühmann scharf). Wird dieser Bevölkerungsanteil aber zu groß, sollte man sich etwas zurück halten, um keine Negativwerbung zu machen und die gesamte Bewegung zu verunglimpfen (wie es beispielsweise bei fast allen terroristischen Organisationen, oder in jüngerer Vergangenheit mit der Letzten Generation passiert ist, deren Vorgehen auch andere Klimaproteste diskreditiert). Die soziale Revolution braucht Zeit, und jeder Versuch, sie ruckartig oder im Zeitraffer voran zu bringen, wirft sie i.d.R. zurück. Darüber hinaus gilt außerdem: Beiße nicht die Hand, die dich füttert – oder erwarte dann zumindest nicht, damit ungestraft davon zu kommen.

Brühmann hätte sich spätestens mäßigen können, nachdem mehrere Kirchen (damals noch viel angesehenere Einrichtungen) Stellungnahmen schrieben, Eltern protestierten, Ehemalige zum Boykott aufriefen und der Verlag die Kooperation beendete. Trotzdem wurden seine Texte nicht gemäßigter oder für das einfache Volk einfacher formuliert. Er blieb bei seinem sehr speziellen, scharf formulierten, radikalen Schreibstil.

Kapitel II: Die Gegenschule

Wir bleiben an der THS in Homberg, und inzwischen ist das Schicksalsjahr 1968 erreicht. Es ist Februar, und die ehemaligen Schüler Dieter Bott und Hans-Peter Bernhardt, die gerade in Frankfurt studieren, kommen für die Semesterferien zurück in die Heimat – zusammen mit einer Idee. „Gegenschule“ nennen sie ihr Konzept, das sie als erste in Deutschland umsetzen.

Wie gewohnt ist die Aktion selbst nicht weiter aufregend: in einem Gasthaus, später in Biergärten und schließlich auf der Burgruine bieten sie Schüler:innen außerhalb der Schulzeiten kostenlosen Sexualkunde-Unterricht an, während sie auf dem Schulgelände verschiedene werbende, humorvolle und beleidigende Flyer verteilten. Brühmann machten sie zum Märtyrer: „rache ist blu[t]wurst. der chef hat brühmann abgeknickt, dafür wird er jetzt durchgefickt (ein ganz schönes stück schweinearbeit!) […] brühmann geht – dem chef seiner steht“. Die meisten Oberstufenschüler:innen waren mehrmals bei den Treffen gewesen, trotzdem entsprach das Bild der Gegenschule in der Öffentlichkeit nicht ganz der Realität.

Es folgten nämlich bundesweite Schlagzeilen, und selbst der Spiegel bezeichnete das harmlose Projekt als „Pornoschule“. Angeblich hatten Bott und Bernhardt vor, ihren Lehrstoff auch praktisch zu vermitteln, fanden aber nie einen Arzt und wirksame Verhütungsmittel. Vermutlich war das – wie die meisten ihrer Forderungen und Vorhaben – nur Witz und Provokation gewesen. Trotzdem ging man in Homberg allgemein davon aus, dass auf dem Burgberg regelmäßig Orgien stattfanden. 194 Strafanzeigen wurden erhoben.

Vor Gericht erschienen die beiden am ersten Verhandlungstag in Richterroben, am Zweiten in Häftlingskleidung. Die Provokationen gingen weiter, Schuld wurde nicht eingesehen. Das Publikum jubelte so laut, dass Anhörungen abgebrochen werden mussten. Trotzdem wurden Anklagen fallen gelassen oder gemäßigt, und man musste feststellen, dass sie wohl nicht an den Graffiti-Schriftzügen „Vögeln statt turnen“, „Alle Lehrer sind Papiertiger“ u.A. am Schulgebäude verantwortlich waren. Bernhardt erhielt drei Monate auf Bewährung, Bott wurde freigesprochen. Zusammen mussten sie die Gerichtskosten übernehmen.

Typisch für ihre Bewegung hat der gesunde Mix aus Kreativität, Mut, Humor und Provokation gereicht, um große Aufmerksamkeit, viel Diskurs und eine stabile Basis aus Unterstützer:innen zu erzeugen. Natürlich hat sich im Laufe der Zeit und mit der Entwicklung der Medien viel daran geändert, wie man heute Menschen erreichen und begeistern kann. Aber vielleicht wäre noch heute die Unterstützung für beispielsweise antikapitalistische Aktionen breiter, wenn man sich selbst nicht ganz so ernst nehmen würde, und den Fokus weg von der Wut auf die Gegenwart hin zu einem optimistischen Blick in die Zukunft, festgemacht an humorvollen Alltagsbeispielen verlegen würde.

Ein weiterer Punkt, den wir hervorheben möchten, ist die Solidarität und Einheit zwischen den Aktivisten und den Schüler:innen in dieser Geschichte. Wir wissen nicht, wie viele Leute Bott und Bernhardt an der Schule vorher schon kannten, doch dass sie den selben Hintergrund wie die Schüler:innen hatten, ebenfalls jung waren, und sich regelmäßig auf Brühmann bezogen, schaffte sofort ein nachhaltiges, authentisches Gemeinschaftsgefühl zwischen ihnen.

Kapitel III: SDS und Weiberrat

Monika Funken, der in Kapitel I die Bluse zerrissen wurde, brachte sich in Frankfurt in den Student:innenkreisen der 68er ein und wurde 1969 als erste und damals einzige Frau in den SDS-Bundesvorstand gewählt.

Daraus allein lassen sich viele Schlussfolgerungen ziehen. Zum Beispiel, dass Personen, die gelitten haben, dadurch auch stark werden und sich treu bleiben können. Oder einfach, dass die Herkunft aus einem extrem konservativen Umfeld einen nicht automatisch disqualifiziert, in anderen politischen Umfeldern wertvolle Arbeit zu leisten.

Doch darüber hinaus gründete sie 1968 den Frankfurter Weiberrat mit: eine der wenigen und eine der ersten feministischen Organisationen innerhalb der Bewegung. Der Name des Weiberrates ist natürlich – typisch für die Bewegung – provokant und ironisch gemeint. Unter den anderen Gründungsmitgliedern war mit Anette Bauer auch mindestens eine andere Frau aus Nordhessen, und beide waren an den größeren Aktionen beteiligt, wie z.B. einer Flugblattaktion, die eine große SDS-Konferenz unterbrach und sich sehr direkt gegen den Sexismus namentlich genannter Aktivisten aus den eigenen Reihen richtete (und dazu aufrief, ihnen den Penis abzuschneiden).

Dass der Feminismus in Nordhessen besonders weit vorne war, kann man wohl noch nicht sagen. Die Chance, dass beim Weiberrat auch Leute aus Nordhessen dabei waren, ist ja relativ groß, wenn man sich vorstellt, wie viele Nordhess:innen in Frankfurt studiert haben müssen. Fakt ist aber, dass Nordhessen den anderen Regionen Deutschlands hier zumindest nicht deutlich nachstand. Werte wie Gleichberechtigung, oder zumindest Respekt und gute Behandlung jedes Menschen, sowie Gerechtigkeit, Meinungstoleranz und Andere sind ja in konservativen Kreisen nicht viel weniger verbreitet als in progressiveren oder alternativen Kreisen; sie werden nur anders interpretiert und umgesetzt. Für den eigenen Aktivismus bietet es sich jedenfalls damals wie heute an, genau zu wissen, wo sich Werte und Weltbild des breiten Volkes verordnen lassen, um konkret an die Überschneidungen zu den eigenen Idealen anzuknüpfen und seinen Standpunkt besser vermitteln zu können.

Kapitel IV: Kassel

Vielleicht ist nun der Zeitpunkt gekommen, um über die Geographie Nordhessens zu reden. Eines muss man nämlich wissen: bis auf Kassel gibt es keine einzige größere Stadt in der Region, und dementsprechend zentralisiert ist und war die nordhessische Gesellschaft. Für alles, was es auf dem Land nicht gibt – das war damals z.B. Jazzmusik und sind heute z.B. hippe Modehäuser – muss man eben nach Kassel. Trotz Internet sind bis heute viele junge Nordhess:innen sehr oft dort.

Heute sind Kassel und Göttingen die einzigen größeren Städte in der ländlichen Mitte Deutschlands, d.h. in Nordhessen, dem größten Teil Thüringens und kleinen Zipfeln von Niedersachsen. Es ist, als wäre da ein Loch in der Mitte des Staatsgebietes. 1968 sah das aber noch ganz anders aus: da stand zwischen Nordhessen und Thüringen die Mauer. Aus westlicher Sicht kamen hinter Kassel nur noch ein paar kleine Dörfer und dann das wortwörtliche Ende der (westlichen) Welt. Die weltoffenen 68er sprechen von einem starken Gefühl der Isolation, von einer „Käseglocke“. Seit Mauerfall ist man plötzlich mitten drin in Deutschland, nach wie vor aber gleich weit, d.h. ewig weit entfernt vom Rest der nun auch nach Osten weiter gehenden Welt – außer von Kassel. Vielleicht hat sich hier also nicht so viel geändert, wie man sich einbilden könnte.

Jedenfalls ist es rein logisch, dass Kassel auch in den 68ern eine gewisse Sonderrolle in Nordhessen einnahm. Kassel war ein ganzes Stückchen näher dran am Big City Life, an der Anonymität der Großstadt und am Aktivismus im ganz großen Stil. Hier sind es keine einzelnen Schüler, die für Aufruhr sorgen. Hier sind es Personen wie Bernd Lunkewitz, genannt der „Che von Kassel“, der (wir erinnern uns: selbst in Kassel gab es keine Uni) eine große, von der SDS unterstützte Schülerorganisation gründete. Er stand wohl im Mittelpunkt der Kassler 68er, organisierte viele Demos selbst, machte mit dem Hissen einer Vietcong Fahne über einem US-Militär-Kaufhaus und seinem anschließenden Ausbruch aus dem Polizeiwagen auf sich aufmerksam, und machte nicht das erste mal Karriere: der heutige Immobilieninvestor und bis heute bekennende Marxist lenkte in jungen Jahren mit einer großen Einbruchsserie die Aufmerksamkeit des Landes auf sich. Seine größte Bekanntheit erlangte er aber dadurch, dass er auf einer Gegendemonstration von einem NPD-Ordnungshüter angeschossen wurde. Die ohnehin große Persönlichkeit wurde über Nacht zum weit über Kassel hinaus bekannten Helden. Dass er heute Großkapitalist ist, rechtfertigt er so: „Indem ich an diesem System teilnehme, trage ich auch ein Stück weit zu seiner Überwindung bei.“

Wir müssen uns bewusst machen, dass Lunkewitz nur eines von etlichen Beispielen für ‚Verräter‘ an der Bewegung ist – fast alle ihrer bekannten Anhänger wurden im Laufe der Jahre (oft gerechtfertigt) als solche bezeichnet. Schauen wir uns, bevor wir urteilen, also das wohl zweitwichtigste Beispiel der 68er in Kassel an:

Gisela Getty und Jutta Winkelmann (damals beide Schmidt) waren ebenfalls zwei wichtige Personen in den Kassler 68ern. Sie waren zeitweise Mitglied in Kassler Kommunen, lernten dort Lunkewitz kennen und organisierten u.A. mit ihm zusammen die erste Massenkundgebung Kassels seit 1945. Sie verteilten Flyer, drehten Filme über Fabrikarbeiter und gründeten eine Betriebsgruppe der KPD/ML. Relativ früh verließen sie Kassel jedoch, lebten von Kunst und dem Modeln, zur Not auch für den Playboy, entwickelten Kontakte in alle Welt, lebten ohne festen Wohnsitz und vernachlässigten ihre marxistischen Ideale zugunsten eines alternativen Lifestyles. Gisela heiratete einen Schauspieler, ließ sich wieder scheiden, und heiratete dann den Enkel des damals reichsten Menschen der Erde, der von Kindesbeinen an alle Privilegien genoss und selbst Multimillionär war. Heute behaupten die Schwestern trotzdem: „Wir sind für den Arbeiterkampf in Kassel verantwortlich“.


Wie kommt es also dazu, dass so viele 68er ihre Ideale so früh aus den Augen verloren haben? Oft wird das so erklärt: Es war von Anfang an der Plan der Bewegung gewesen, wichtige Posten zu besetzen und durch diese alten Strukturen Veränderung zu bringen. Der „Marsch durch die Institutionen“ wurde das genannt. Um aber in diese Ämter zu kommen, mussten sich die 68er bereits anpassen, und sobald sie in ihren Ämtern von ausschließlich bürgerlich Konservativen umringt waren und nach deren Regeln spielen mussten, um ihre Position zu behalten und ihrem Job nachzukommen, wurden revolutionäre Ideen schnell vernachlässigt. Auch hat man sich bestimmt sehr über das große Gehalt und die neuen Privilegien gefreut. Die Probleme der Gesellschaft waren plötzlich nicht mehr die eigenen. Auf die selbe Weise lässt sich auch erklären, wie aus revolutionären Gruppen im Laufe der Geschichte immer wieder in kürzester Zeit gemäßigte Sozialdemokrat:innen wurden, und warum die frischen Ideen und jungen Politiker:innen der Jugendorganisationen aktuell keine der Bundestagsparteien bereichert.


Doch wir denken, dass es einen weiteren Grund dafür gab. Die 68er waren vielleicht schon vor dem Marsch durch die Institutionen nicht das, wofür sie gehalten wurden. Die selbsternannt trotzkistische bis maoistische Bewegung war von den ursprünglichen Zielen des Kommunismus nämlich weit entfernt. Man wurde aus Protest und nicht aus Überzeugung Kommunist:in. Es ging um einen Bruch mit dem Alten und Konservativen. Das hieß aber vor allem – komplett konträr zu den eigentlichen kommunistischen Idealen – Individualismus. Freie Entfaltung, freie Liebe, Bruch mit alter Gesellschaft und Gemeinschaft. Während man sich auf die Worte des Vorsitzenden Mao Zedong bezog, betrieben viele eine rein liberale Politik. Der Übergang zum Neoliberalismus ist fließend. Der Bezug zu Ostdeutschland und nach China war nicht sozialistisch-solidarisch, sondern rein internationalistisch. Als Beispiel können wir sehr gut die individualistischen, internationalistischen Schmidt-Schwestern nehmen. Der Übergang von linksliberal-alternativer zur gehobenen bürgerlich-liberalen Kultur war und ist bis heute fließend – vor allem in Künstler:innenkreisen.

Natürlich gab es auch etliche stramme Sozialist:innen unter den 68ern. Viele von denen, die Mao lasen, waren von seinen Worten wirklich überzeugt. Doch sie scheiterten. Die Politik war bereit für die Umsetzung der liberalen Ziele, nicht aber für die sozialistischen. Wer auf bisherige Erfolge aufbaute, entfernte sich automatisch vom ursprünglichen Ziel.


Und einen dritten Aspekt gibt es, der vor allem auf die großen Persönlichkeiten in den Städten zutraf. Wir denken, dass auf diese Persönlichkeiten einfach sehr viele verschiedene Einflüsse wirkten. In den Großstädten hat alles eine Bühne und eine Vereinigung, der man sofort beitreten kann. Man lernt neue Leute kennen, anstatt die immer selben auf der Straße zu grüßen – vor allem, wenn man sich irgendwo aktiv engagiert. Man lernt schneller neue Ideen kennen, neue Lebensweisen und neue Berufszweige. Es gibt mehr Möglichkeiten. Die Verführung ist größer. So könnte man es sich bei Lunkewitz vorstellen. Er wurde erwachsen und wollte sich etwas neues suchen, und hatte mit seinen Kontakten und seiner Bildung in Kassel die freie Wahl. So lässt sich erklären, warum die größten Figuren auch die größten Verräter wurden, und warum weniger bekannte Mitglieder besonders auf dem Land weniger betroffen waren.

Besteht dieses Risiko, gerade von den Engagiertesten verraten zu werden, immer noch? Bis heute gilt wohl unangefochten, dass es in der Stadt mehr Einflüsse und schnellere Veränderung gibt. Trotzdem werden die heutigen Aktivist:innen in der Stadt ja nicht mehr alle Immobilienmakler:innen, Investor:innen, SPD-Politiker:innen und Staatsanwält:innen, wenn es mit dem Sozialismus gerade mal nicht so läuft. Das liegt wohl daran, dass sie heute eine ganz andere Position in der Gesellschaft haben als damals die 68er. Diese waren eine besonders große und breite Bewegung, die an allen Stellen und eben auch absichtlich an alte Institutionen anschloss. Das ist heute anders: Kollektive sind oft im negativen sehr isoliert, schließen im positiven aber nicht an alte Institutionen an, sondern sind eigenständiger. Würde die sozialistische Bewegung wieder zu einer Massenbewegung werden, müsste man gut aufpassen, dass weiterhin eigene, aber eben immer größere Kreise geschlossen werden, anstatt dass man sich nicht-revolutionären Kreisen anschließt oder annähert.

Kapitel V: APO und RAF

Am Ende der Massenbewegung kommt es also, wie es kommen muss. Der Sozialismus wurde mit friedlichen Mitteln nicht erreicht, also muss Gewalt her, denken einige. Von den Dingen, die die 68er zum Scheitern verurteilt haben, möchte sich die RAF trotzdem nicht distanzieren, d.h. von individualistischem Denken, hedonistischem Lifestyle und fundamentloser Rebellion.

Reden wir aber erst mal wieder über die Bezüge nach Nordhessen. Zunächst einmal ist RAF-Gründungsmitglied Astrid Poll hier groß geworden. Ein weiteres Beispiel dafür, dass auch Dorfkinder problemlos bei großen Dingen Mitglied sein können. Die Welt steht ihnen genauso offen wie den Städtern, wenn sie es nur wollen.

Doch schon vor der Gründung der RAF sind Andreas Baader und Gudrun Ensslin enge Kompliz:innen und leiten gemeinsam eine eigene aktivistische Gruppe der APO. Sie hatten eine eigene Revolutionstheorie entwickelt, bei der nicht auf das Proletariat, sondern sog. Randgruppen, also isolierte, unterdrückte Gruppen wie hier z.B. Jugendliche in Erziehungsheimen gesetzt wird. In ihrer Heimkampagne sollen diese Personen rekrutiert werden, und nebenbei aufgezeigt und veröffentlicht werden, wie schlimm die Lage in den Heimen ist. Daraus ließe sich dann Kritik am gesamten System ableiten. Weil es die schlimmsten Heime damals in Nordhessen gab, kamen auch die beiden späteren Terroristenführer:innen für eine ihrer letzten und größten Aktionen vor der RAF hier her.

Das Verfahren war recht simpel. Man verschaffte sich Zugang zu den Heimen, indem man sich als Praktikant:in bewarb oder sich unbemerkt aufs Gelände schlich. Den Jugendlichen im Beiserhaus in Rengshausen wurden Flyer gegeben, Vorträge gehalten, Brüste gezeigt und Gegenstände zugeschmuggelt. Schon bald kam es zu Handgreiflichkeiten von allen Seiten, moderierten Debatten („erzwungene Vollversammlung“) und Ausbrüchen der Jugendlichen. Erst, als sich der Großteil der Jugendlichen gegen die APO positionierte, wurden die Aktionen beendet. Einzelne Jugendliche waren vorher aber leicht für die Organisation zu begeistern, weil sie vorher in ihrem Leben wenig Aufmerksamkeit und Entscheidungsmacht erhalten hatten. So beispielsweise der damalige Insasse Peter-Jürgen Boock, der ausbrach, mit den Terroristen lebte und schließlich eine Schlüsselfigur in der Gründung der zweiten RAF-Generation wurde.

Und das ist noch nicht mal die einzige Beziehung von der RAF zu nordhessischen Erziehungsheimen. Die erzeugten nämlich bundesweite Schlagzeilen, und somit sah sich auch eine bekannte linke Journalistin zu ihnen hingezogen: Ulrike Meinhof, die später zweitwichtigste Terroristin der Gruppe, filmte ihre letzten beiden Fernsehdokumentationen vor demihrem Untertauchen ebenfalls in nordhessischen Erziehungsheimen.


All das einzuordnen und einen Bezug zum Land herzustellen, ist nicht so leicht wie bei den vorhergegangenen Geschichten. Immerhin richtete sich der Aktivismus hier gar nicht an die Leute vor Ort, sondern an die gesamte Bundesrepublik. Der Standpunkt Nordhessen war sozusagen zufällig.

Eines kann man aber hervorheben: Aktivismus passiert immer an einem von zwei Orten. Entweder zu hause, wo die Aktivist:innen selbst leben und Kontakte und Vorwissen haben (so etwa bei der Nachbarschaftsarbeit oder bei Aufständen), oder an den Orten, wo es am einfachsten oder dringendsten ist (also da, wo die meiste Aufmerksamkeit ist, wo die Ausbeutung stattfindet, wo die Kohle tatsächlich abgebaut wird, oder eben wo die Zustände in den Jugendheimen am schlimmsten sind). Bei letzterem kommen die Aktivist:innen aus der ganzen Welt angereist, um gemeinsam eine besonders große Aktion zu starten, und auf diese Weise kann jeder scheinbar zufällige Ort, inklusive einem winzigen Dorf namens Lützerath oder einem winzigen Dorf namens Rengshausen plötzlich riesige Relevanz entwickeln. Um diese Orte zu finden, braucht es einen weiten Blick, viele Kontakte in möglichst verschiedenen Orten der Welt und ein möglichst gutes Verständnis davon, wie die Welt an diesen Orten und im großen Ganzen funktioniert – inkl. Kapitalismustheorie und konservativer Weltbilder. Das kann ein hoher Anspruch sein und eine Weile dauern, ist aber das, was den Unterschied zwischen überregional denkenden Aktivist:innen und Krawalltourist:innen ausmacht.

Fußnote

  • 1 Grötecke, J. und Schattner, T. (2011). „Der Freiheit jüngstes Kind“ – „1968“ in der Provinz – Spurensuche in Nordhessen (1. Auflage). Jonas Verlag.